Die immergrünen Talente der Rosafarbenen

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Es gedeiht im Schatten und deckt derzeit im Mai mit sattem Grün die eine oder andere Baumscheibe zu. Seine Blüte, botanisch eine „stieltellerförmige Trichterblume“, sieht aus wie ein blaues Windrad mit fünf Flügeln. Die Rede ist vom Kleinen Immergrün Vinca minor aus der Familie der Hundsgiftgewächse, von dem es heisst, es sei mit den Menschen gereist und verrate als archäologische Zeigerpflanze auch mal römische Überreste. Jetzt im Mai wächst das Grün und geht es darum, die mächtige Maschinerie im Innern zu beschäftigen, zu wachsen und zu wehren. Die feine Pflanze ist eine sehr geschickte Chemikerin, die sehr komplexe Moleküle herstellen kann. Um zuerst einmal einfach ungeniessbar zu werden. Jedenfalls ist vom Genuss der einladend grünen kleinen Vinca abzuraten. Alles an ihr ist giftig.

Chemikerinnen und Chemiker aber kriegen feuchte Augen, wenn sie sehen, wie rankenreich dieses Hundsgiftgewächs komplizierte Moleküle baut. Auch solche, die für den Menschen äusserst nützlich und lebenserhaltend sein können – zum Beispiel eine ganze Reihe von „Vinca-Alkaloiden“. Alkaloid ist eine alte und ziemlich unscharfe Bezeichnung für einen komplizierten von Pflanzen hergestellten Stoff. Tausende davon sind schon im Pflanzenreich beschrieben. Es gibt solche, die den Herzrhythmus stabilisieren, Gefässe erweitern oder den Blutdruck beeinflussen. Oder sie erhalten, wie angeblich das aus Schlangenwurz gewonnene Yohimbin, eine Erektion. Vinca-Alkaloide aber sind interessant, weil sie Zellen an der Teilung hindern.

Rosafarbene Catharanthe

Bild Wikipedia

Höchste Zeit, zur madegassischen Verwandten des Kleinen Immergrüns, der Rosafarbenen Catharante (Vinca rosea oder Catharanthus roseus) zu wechseln. Die nämlich produziert sage und schreibe über siebzig Alkaloide. Einige können in natura oder abgeänderter Form in Medizin und Biologie eingesetzt werden. Darunter Vinblastin und Vincristin, die Krebszellen am Teilen und Vermehren hindern.

Der Zufall und eine gute Beobachterin, die für ihn bereit war, brachten diese Wirkung an den Tag. In der Volksmedizin hatte man die Rosafarbene als Appetithemmer verwendet. Das machte sie interessant für einen Einsatz bei Zuckerkrankheit. Doch bei Tierversuchen, die der Kanadier Robert Laing Noble durchführte, entdeckte Mitarbeiterin Halina Robinson, dass Kaninchen keine neuen weissen Blutkörperchen mehr produzierten. Vinblastin war als Krebsmittel entdeckt.

In den sechzig Jahren seither haben sich Scharen von Chemikerinnen und Chemiker mit dem windungsreichen Weg befasst, auf dem die Catharanthe das Alkaloid herstellt. In einer Fabrik, die wohlgemerkt nur aus dem aufgebaut ist, was die Pflanze aus der Luft und dem Boden beziehen kann. Heute lässt sich viel über Gene erhellen. Manches wird dank ihnen erklär-, aber darum noch lange nicht einfach nachahmbar. Noch immer ist die Pflanze Quelle für den Wirkstoff. Aus 500 Kilogramm trockenen Blättern lasse sich gerade mal ein Gramm gewinnen. Das könnte sich bald bessern. Denn Sarah O’Connors Gruppe vom John Innes Centre für Pflanzenforschung im englischen Norwich vermeldet in „Science“ die Aufklärung der letzten zwei von insgesamt 31 Schritten, die eine Catharanthe bis zum fertigen Vinblastin geht.

Vinblastin (Wikipedia)

Mit dabei auch das Team von Vincent Courdavault an der Université François-Rabelais de Tours. Sie haben über die Gene zwei chemische Werkzeuge oder Enzyme identifiziert, die – so tönt das fachsprachlich – Stemmadeninacetat in Dihydroprecondylocarpinacetat verwandeln und letzteres dann dank zwei Hydrolasen in Catharantin oder Tabersonin deacetooxyliert und cyclisiert wird.

So kompliziert tönende Sachen macht die rosafarbene Verwandte unseres ebenfalls schwer unterschätzten Immergrüns von Wurzel bis zur Blattspitze. Wär man eine Pflanze, man könnte immergelb vor Neid werden.

Dieser Hick-up erschien Anfang Mai 2018 in der Basler Zeitung.

Wenn Gletscher schmelzen, blühen die Klimagipfel

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Volume 556 Issue 7700Ein Haufen übereinandergeschobener Schweizer Geröllbrocken ziert die Titelseite der gedruckten Ausgabe von „Nature“: Mitten auf grauen Steinen blüht eine kleine Insel von lila Alpen-Mannsschild, Androsace alpina, Felsenjasmin für Engländer. Das Bild stammt vom Gipfel des Oberengadiner Piz Lagalb im Val Bernina, 2959 Meter hoch, und illustriert indirekt: Auf Berggipfeln Europas von den Spitzbergen bis zu den Karpaten ist die Zahl der angetroffenen Pflanzenarten im Vergleich zu früher stark gewachsen. Zwischen 2007 und 2016 sei die Zunahme gar fünf Mal schneller als zwischen 1957 und 1966 gewesen, berichtet eine 53-köpfige Forschungsgruppe um Manuel Steinbauer von der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen und um die bergtüchtige Davoser Botanikerin Sonja Wipf am Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Nature

Dass ein Mannsschild auf die Arbeit hinweist, hat seinen guten Grund. Bereits 1835 hatte der Zürcher Botaniker und Pfarrersohn Oswald Heer mit seinem Führer Johann Madutz den Piz Linard im Unterengadin als Erster bestiegen.

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Der Zürcher Botaniker, Naturforscher und Theologe Oswald Heer (rechts) mit Peter Merian (Mitte) und Arnold von Escher, dem Bruder des Alfred. 

Dort traf der sowohl mit dem legendären Zürcher Alfred Escher als auch mit dem Basler Geologen Peter Merian befreundete Naturforscher laut seinen Feldnotizen auf dem Gipfel nur eine einzige Pflanze an: den Alpen-Mannsschild, wie er auch auf Piz Lagalb blüht.

Berggipfel haben den Vorteil, dass sie auch ohne GPS genau lokalisierbar sind. Jener des Piz Linard wurde im Schnitt alle zwanzig Jahre wieder von Pflanzenkundigen besucht und so zum am längsten und besten untersuchten Gipfel Europas. Auf ihm zeigt sich, was sich auf den letzten zehn Metern von 301 weiteren europäischen Bergspitzen feststellen lässt: Die Artenzahl nimmt überall zu. Auf dem Piz Linard in den letzten zwanzig Jahren besonders: Neben dem Mannsschild, den Oswald Heer 1835 als einzige Art gefunden hatte, blühen heute weitere 15 Arten auf dem Gipfel.

Der frühe Hang der Pflanzenkundigen, Berge zu besteigen, um aufzuschreiben, was da oben noch wächst, hat dem Datenbestand des Forschungsnetzwerks aus elf Nationen zahlreiche historische Daten beschert. Es wurden aber auch über 250 Gipfel neu bestiegen, in der Schweiz die meisten von einem Team um Sonja Wipf

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Sonja Wipf vom Schweizerischen Institut für Schnee und Lawinenforschung auf dem Piz Murter im Schweizer Nationalpark. Eben hat sie noch ein kleines Hungerblümchen Draba aizoides entdeckt. Foto Hans Lozza

und Christian Rixen vom SLF Davos. Jedes Mal wurde die Fläche der obersten zehn Meter des Berges abgesucht. Die konnte je nach Gipfelform – nur für die Schweiz gibt es solche Zahlen – von 391 bis zu 16 720 Quadrametern um das Vierzigfache variieren. Jeweils zwei Pflanzenkundige arbeiteten unabhängig voneinander und ohne früher aufgestellte Pflanzenlisten zu kennen. Die Daten differierten um bescheidene 14 Prozent.

Auf der Suche nach Gründen für den Artenzuwachs wurden mehrere Faktoren geprüft: Die Veränderungen der Sommertemperatur, Unterschiede in der Niederschlagsmenge und der Stickstoffeintrag aus der Luft. Ergebnis: Nur die Temperatur hatte einen signifikanten Einfluss auf die Artenzahl. Je stärker ihr Anstieg zwischen zwei Inventuren war, desto grösser auch die Artenzunahme, in jüngerer Zeit noch beschleunigt.

Die gipfelnahe Vegetation dient als rasch reagierender lebender Anzeiger des Klimawandels. Wenn uns schon die Gletscher schneller wegschmelzen, blühen wenigstens die Gipfel bunter. Doch ist zu befürchten, dass die hochgeschleppten Nachrückenden sich auf Kosten der jeder Kälte trotzenden Spezialisten breitmachen. Über kurz oder lang wären es dann am Ende nicht mehr, sondern weniger Arten geworden.

Wenigstens habe, wer auf Schotter zu wachsen weiss, gute Karten. Den Aufsteigern sei das zu wacklig. Auch das Mikroklima könne in der Höhe auf wenigen Metern so stark divergieren, dass alte und neue Arten trotz steigender Temperaturen vielleicht nebeneinander existieren und angetroffen werden könnten, sagen die Forschenden. Wie das Drama verläuft, wird sich auf der geschaffenen Basis gut verfolgen lassen. Immerhin hat Europa nun 302 Klimagipfel, auf denen es so schnell keine Ruhe geben wird.

Erschienen in der Basler Zeitung vom 17. April 2018

Bitte mein Selfie operieren

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by Martin Hicklin

Man weiss eigentlich nicht so recht, warum wir Menschen unsere Nase so prominent vor uns her tragen. Gründe werden verschiedene genannt: Wir können so besser Luft filtrieren, sie liess sich hervorragend leichter putzen und biete vielleicht noch andere Überlebensvorteile. Gut möglich auch, dass sie ihre hervorragende Position einem Verdrängungsvorgang verdankt: Weil das Gehirn im Laufe der steilen Entwicklung zum Homo sapiens mehr Platz benötigte, musste die Nase vors Antlitz und in die Kälte treten. Heute benutzen manche Menschen ihr platzheischendes Gehirn dazu, sich Sorgen um das eigentlich bescheiden Hervorragende zu machen. Das beflügelte Luftkamin ragt bei Männern im Durchschnitt 21,1, bei Frauen 19,8 Millimeter aus dem Gesicht. (Die Zahlen stammen aus einer Vermessung von über 4000 Gesichtern – für den Bau passender Atemschutzmasken.)

Die Nasen-Sorgen sind mit den Wogen der Selbstdarstellung in der digitalen Gesellschaft dramatisch gewachsen. Denn viele Menschen, ob jung oder reiferen Alters, machen mit ihren Smartphones bei jeder Gelegenheit Fotos von sich selbst und teilen sie über soziale Medien mit Freundinnen, Freunden oder Bekannten. Facebook (mit derzeit zwei Milliarden aktiven Mitgliedern) heisst nicht umsonst so. „Selfie“ hat sich als Begriff für so ein Selbstporträt eingebürgert und ist laut den Oxford Dictionaries erstmals 2002 in Australien verwendet und 2013 gar zum Wort des Jahres erhoben geworden.

Selfies stärken angeblich das Selbstgefühl im Wettbewerb der Schönen und Schöngebliebenen, befriedigen narzisstische Bedürfnisse oder machen einfach Spass. Wie viel Zeit und Sorgfalt in die Autoritratti investiert werden, zeigt eine Umfrage der britischen OnePoll unter 2000 jungen Frauen zwischen 16 und 25 Jahren: Laut deren Angaben braucht es im Durchschnitt sieben Anläufe und 16 Minuten bis ein zufriedenstellendes Selfie versandbereit ist. Im Schnitt drei Mal im Tag. Belegt fünfeinhalb Stunden die Woche. Das war im April 2015. Seither sind viele Milliarden Selfies auf den Weg geschickt worden. Natürlich auch von Männern und Menschen reiferen Alters. Es dürften über oder gar mehrere 100 Millionen pro Tag sein.

Das hat weitreichende Folgen. Denn eines haben die meist nur aus Armlänge Entfernung gemachten Bilder gemeinsam. Sie bilden uns nicht so ab, wie wir aussehen. Das hat physikalische Gründe. Die vorstehende Nase wird grösser und breiter abgebildet als ihr Hintergrund. Die Dimensionen des Gesichts sind verzogen. Darauf haben Mediziner um den plastischen Chirurgen Boris Paskhover von der Rutgers New Jersey Medical School eben im Fachblatt „JAMA Facial Plastic Surgery“ hingewiesen. Sie rechneten aus, dass eine aus 36 Zentimeter Entfernung aufgenommene Nase um fast einen Drittel grösser erscheint als sie sollte. Erst aus eineinhalb Metern Distanz wird das Gesicht normal abgebildet.

Das gleiche Gesicht
Vor der Operation, nach der Operation? Nein – aus der Nähe (33 cm) und aus Distanz (150cm) aufgenommen. Bild aus Publikation

Die Rechnung der Gesichts-Plastiker hat aktuellen Grund. Immer mehr junge Leute gehen in den USA zum Schönheitschirurgen, weil sie mit ihrem Selfie nicht zufrieden sind. Mehr als die Hälfte der in der mächtigen Akademie der amerikanischen Gesichtschirurgen AAFPRS organisierten Mitglieder hatten 2017 Patientinnen und Patienten, die ihr Selfie verbessern wollten. Will heissen, das Original anpassen. Selfie-Wahrnehmung (Selfie Awareness) sei keine kurzlebige Mode, sagt Akademiepräsident William Truswell bedeutungsvoll. Eine Generation wachse heran, die ihren Alterungsprozess selbst kontrollieren wolle. Die Millennials würden sich hervorragend in allen Techniken auskennen und begännen schon unter dreissig mit kosmetischen Injektionen. Resultate würden heute ohne Scham wieder auf sozialen Medien geteilt, um für den „potenziell lebensverändernden“ Schritt Solidarität zu finden. Doch eines sei heute durchgehend vordringlichster Wunsch: Das Ergebnis muss völlig natürlich aussehen…

Dieser Text erschien als Hick-up in der Basler Zeitung vom 6. März 2018

Jeden Tag im Gedächtnis und der arme Tithonos

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Letzte Woche war hier von jenen ärgerlichen Situationen die Rede, in denen einem länger ein Name oder Begriff nicht mehr einfallen will, und dass dies gerne als Zeichen des unvermeidlichen altersbedingten Abbaus interpretiert wird. In erfrischender Weise hatten der Sprachforscher Michael Ramscar und Mitautoren von der Universität Tübingen in «Topics of Cognitive Science» dagegengehalten, dass vielleicht ältere Gehirne mehr als junge gespeichert und nur darum länger hätten, das Richtige zu präsentieren. Ein «senior moment», wie im Englischen die altersbedingte längere Leitung genannt wird, könnte bei gesunden Älteren also auch positiv gedeutet werden.
Wie gross die Spanne der Gedächtnisleistungen unter Menschen sein kann, wird im neuen «Scientific American» vorgeführt. Dort berichten James McGaugh und Aurora LePort von der berühmten Jill Price, die sich 2000 an der University of California in Irvine gemeldet hatte, weil sie versucht, damit zurande zu kommen, dass sie seit ihrer Jugend von jedem Tag und jedem Datum sagen kann, was sie erlebt hat und was sonst noch geschah. Ein superautobiografisches Gedächtnis als Gabe oder Störung. Gedächtnishöchstleistungen sind seltener geworden.
Weil sie nicht mehr so sehr benötigt werden? McGaugh und LePort erinnern an die Zeiten, wo riesige dichterische Erzählungen in den Köpfen gespeichert und mündlich weitergegeben werden mussten. Tausende von Versen wären das zum Beispiel in Homers «Ilias» und «Odyssee».
Die Sänger mussten sich etwa erinnern, wie der elfte Gesang der Ilias beginnt, wo statt «Am Morgen» steht: «Aus des schönen Tithonos Lager erhob sich Eos, um den ewigen Göttern und sterblichen Menschen zu leuchten.» Die lockenumkränzte Göttin der Morgenröte sorgt dafür, dass es Tag wird. Sie, die nie ausschläft, muss den Geliebten verlassen und eilt mit ihrem mit den Pferden Glanz und Schimmer bespannten Wagen jenem des Sonnengottes und Bruders Helios voraus und streut, zumindest am griechischen Himmel, ihre Rosenblätter.
Die rosenfingrige und safrangewandete Göttin hatte sich in den Morgenstunden aber auch oft nach schönen Sterblichen umgesehen und sie glatt ent- oder verführt. Orion, den Jäger, zum Beispiel, der uns heute noch als Sternbild begegnet. Zur ewigen Begier nach jungen Männern hatte sie die Liebesgöttin Aphrodite verflucht, nachdem sie eines Morgens die Morgenröte statt am Horizont unter der Türe des Schlafzimmers ihres Geliebten Ares, des muskelgepanzerten Kriegsgottes, hatte hervorschimmern sehen.

met_eos-tithonos_det-figuresWie sich Eos (rechts) in Trojas Königssohn Tithonos verliebt, hofft sie Aphrodites Fluch zu heilen. Sie bittet Göttervater Zeus, den Geliebten unsterblich zu machen, vergisst aber dummerweise, auch ewige Jugend zu wünschen. Unfähig zu sterben, runzelte Tithonos bald in der Morgengöttin Palast vor sich hin, bis er «kein Glied am Körper mehr regen konnte» und so geschrumpfelt war, dass die Göttin ihn im Palast einschloss. Die Stimme sei allerdings keifend laut geblieben. Eos habe ihn drum in eine schrille Baumzikade (Tettix) verwandelt. So konnte er wenigstens ab und zu die Haut wechseln. Tithonos, der Geliebte der begehrenden und begehrenswerten Eos (die Aurora der Römer), versinnbildlicht die Angst der Männer vor dem «krümmenden Alter», dem «Erbleichen der Haare» und unvermeidlichen Verlust der Anziehungskraft. Ob sich die Göttin bald den Umarmungen des Erbleichenden entzogen oder ob sie, wie der römische Dichter Properz erzählt, rührend auch weiterhin das graue Haupt des Vergreisenden geküsst hat – wer weiss das schon?
Auffallend aber war in den letzten Tagen, dass hier bei uns jede Spur von Morgenröte ausgeblieben ist. Ich vermute, Eos war schwer darüber verstimmt, dass ich letzten Dienstag Tithonos falsch geschrieben hatte. Jetzt ist das hoffentlich mit dieser wortreichen Berichtigung wieder eingerenkt, und der Bedauernswerte hat bei Jung und Alt wieder seinen richtigen Namen und Platz.

Erschien als Hick-up in der BaZ vom 4. Februar 2014

Was der Weisheitszahn der Nixe Naia verriet

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Sie muss etwa 16 Jahre alt gewesen sein und war möglicherweise schwanger, als ihr das Unglück zustiess. Von feinem Körperbau, kaum einen Meter sechzig gross, mit schmalem Gesicht und hohen Schläfen, war sie vielleicht auf dem Weg zum Wasser gewesen. Das gab es damals vielleicht nur tief unten in diesen Karsthöhlen. Das Mädchen wurde – so kann man etwa vermuten – von Unwohlsein befallen, ist gestürzt, hat sich dabei gar das Becken gebrochen und ihre Leiche muss in diesen birnenförmigen Höhlenschlund gerutscht sein, den man heute «Hoyo Negro» (Schwarzes Loch) nennt. Er liegt an der Küste im Südosten von Yucatán, jener mexikanischen Halbinsel, die – der Zufall will es – schon letzte Woche hier Thema gewesen war. Damals wegen der Chicxulub- Katastrophe zu Dinozeiten.

Lange hat die Wasserträgerin oder was von ihr übrig blieb in dieser Höhle gelegen. Bis 2007 der Taucher Alberto Nava ihr in diesem schwer zugänglichen, mit Wasser gefüllten Höhlenraum erstmals begegnete. Plötzlich sei der Schädel des Mädchens in den Kegel der Lampen geraten und habe ihm aus dunklen Augenhöhlen entgegengeblickt, erzählt Nava heute. Ein zwiespältiges Erlebnis, war die Expedition doch keineswegs ungefährlich. Bald einmal wurde klar, dass die Höhle lange zuvor schon anderen zur Falle geworden war. Aus den Fotos konnten Archäobiologen die schön geordneten Überreste von Riesenfaultieren, Höhlenbären, Tapiren identifizieren. Oder eines Smilodons, einer ausgestorbenen Säbelzahnkatze, die mit jener verwandt ist, die derzeit im Basler Naturhistorischen Museum die Besucher anfaucht.

Das nasse Grab ist inzwischen gut erforscht und das tote Mädchen hat auch seinen Namen. Man weiss jetzt: Mehr als 12 000, eher gegen 13 000 Jahre muss die junge «Naia» auf ihre Entdecker gewartet haben (griechisch Naia steht für Quellnymphe, Nixe oder Najade). Wann sie gelebt hatte, verrieten Reste im vieltausendjährigen Fledermauskot unter Wasser, Kalzitablagerungen auf den Knochen und andere Indizien. Die Nixe Naia, so zeigte sich, zählt zu den ältesten aufgefundenen Ureinwohnerinnen Amerikas.

Dass das Skelett komplett erhalten blieb, ist ein Glücksfall. Was man daraus liest, berichtete eine internationale Schar von Forschenden eben in Science, begleitet von einer Salve Medienmitteilungen. Das mexikanische Institut für Anthropologie war federführend und die National Geographic Society samt Magazin mit von der Partie. Das ganze Unternehmen war entsprechend: Profitaucher und -taucherinnen wurden auf ihrer Mission von aussen gesteuert, als wär es eine Weltraumexpedition. Fotos sollten genügen, nur wenig Material wurde mitgenommen. Alles müsse man so hinterlassen, wie man es angetroffen habe, schreibe der Codex der Höhlenforscher vor, heisst es im Bericht. Darum sei zuerst nur ein lockerer und vom Untergang bedrohter Schneidezahn mit allerdings beängstigender Karies und ein Stückchen des in schönem Schmelz erhaltenen Weisheitszahns als DNA-Quelle entfernt worden.

Aus den Spuren lasen der forensische Anthropologe James Chatters und andere. Die Proben verrieten, dass Naia mit jenen Einwanderern verwandt war, die aus Sibirien/Eurasien stammend über Beringia, die Bering-Landbrücke im Norden, gekommen und vor rund 17 000 Jahren den amerikanischen Kontinent erwandert hatten. Beringia war damals bewohnbare Steppe, in der noch Rentiere, Mammuts und Moschusochsen weideten.

Dass die nachweislich mit ihr ebenfalls verwandten, aber sesshaft gewordenen Indianer viel breitere Gesichter hatten als die 16-Jährige, gilt als Werk der Evolution. Der Fund liefert einen weiteren Beleg zur Klärung der Umstände, unter denen die ersten Menschen nach Amerika kamen. Aber die Tragödie der Nixe Naia mit all der wissenschaftlichen Detektivarbeit rundherum ist vom Stoff, der nicht nur Jugendliche vom Forschen träumen lässt.

Dieser Text ist am 20. Mai 2014 als Hick-up in der Basler Zeitung erschienen.