Auf feuchtem Feinschutt gedeiht der Zweiblütige Steinbrech, das Murmeltier labt sich wie die Gämse am hochsteigenden Alpenklee. Der Krummsegge ist der saure Boden recht, schon fünf Tage nach der Schneeschmelze öffnet sie ihre Blüten. Und neben dem Bunten Wiesenhafer und dem lebendgebärenden Alpenrispengras fällt im Violettschwingelrasen der Berg-Drachenkopf neben dem eigentlich die fetten Wiesen im Tal gewöhnten Röhrigen Gelbstern ins weidende Auge. Alle haben sie lateinische Namen.
Wie die fantastische Campanula thyrsoides,
die gelblich-weiss blühende Strauss-Glockenblume, die des griechischen Weingotts Bacchus Thyrsos-Stab im Beiwort hat. Bis zu zehn Jahre wendet die kalkliebende Pflanze dafür auf, eine Rosette zu bilden, um dann nur ein einziges Mal mit grossen Blütenständen zu protzen. 50 000 Samen stecken da drin. Sind die reif, stirbt die Pflanze. Mehrere Jahrzehnte braucht gar eine lila blühende Silikat-Polsternelke, bis sie sich mächtig über einen Felsen gewölbt hat.
Auch das Alpen-Kissenmoos erfreut das Kenner-Auge, neben Schleichers Birnmoos, dem Flügel- und dem Beutel-Lebermoos. Ihre Vorfahren sind die ersten grünen Pflanzen gewesen, die das Land vor immerhin 450 Millionen Jahren erobert haben. Und wie freut sich das Quintett der Bryologen (Mooskenner), wenn es gar noch das vom Aussterben bedrohte Glockenhutmoos entdeckt.
Wo Bryologen fündig werden, sind auch Lichenologen nicht weit. Die Flechtenexperten arbeiten mit Lupe am Fels und nehmen nur winzige Proben fürs Mikroskop. Denn ein Flechtenbewuchs – «Patina» – kann schon mal 1000 Jahre hinter sich haben und wird Jahrhunderte benötigen, um Frevel-Schäden zu überwachsen. Ein «Flechten-Eldorado» sei da ganz oben am Grat, während weiter unten die Strauchflechten verhüten, dass der kostbare Boden weggeblasen wird.
Die Zwergweide und der Silberwurz wiederum, der Lebendgebärende Knöterich und das Nacktried leben in produktiver Gemeinschaft und wurzelnder Nähe mit Pilzen zusammen. Die zeigen hin und wieder ihre Fruchtkörper. Als Hochgebirgs-Speitäubling zum Beispiel oder Silberwurz-Milchling. Oder als dem Knollenblätterpilz naher Alpiner Scheidenstreifling. Der Weidenschleimfuss setzt seinem Hut spinnwebenartige Hüllen auf, wo dagegen ein fragiles Hütchen den Samtfuss-Nabeling krönt.
Und schon geht der Platz zu Ende. Kein Wort mehr von der perfekt behüllten Schalenamöbe Euglypha, der Alpen-Glanzbiene und der Flicken-Schlupfwespe, nichts mehr über dGrosse Höckerschrecke. Auch die nützliche Mistbiene lassen wir rechts liegen wie den Ähnlichen Perlmuttfalter, die Simplon-Erdeule und den Heidelbeer-Alpenspanner, vom Alpinen Rüsselkäfer Barynotus, der Gitterwanze und dem Erlenblattfloh nicht zu reden. Nichts mehr zu den hundertfüssigen Steinkriechern und Erdläufern, der gepanzerten Hornmilbe oder der Plattbauchspinne. Wir schweigen die Erdkröte vom Hotel Belvedere und die Aspisviper sowie die Erdnatter tot. Kein Ton mehr über das heisse Treiben sich auf Schnee paarender Grasfrösche, die Mehlschwalben und Alpenbraunellen lassen wir wortlos fliegen. Die Walliser Spitzmaus und das fettreiche Alpenmurmeltier bleiben im Bau.
All die Genannten und viele mehr – genauer über 2000 Arten von Organismen! – haben 47 Expertinnen und Experten 2012 in vier Juli-Tagen aufgespürt und bestimmt. Hoch oben auf der Furka an der von Basler Uni-Botanikerinnen und -Botanikern gegründeten Alpinen Forschungs- und Ausbildungsstation ALPFOR. Die Armee hat auf ihrem «Furkablick» Naturforschenden Platz gemacht. Auf www.alpfor.ch kann man mehr erfahren. Und anschliessend feiern, dass es noch Leute jener schwer gefährdeten Gattungen gibt, die sich mit Faltern, Blattflöhen, Käfern, Spinnen, Schlangen und Moosen sowie Blütenpflanzen auskennen und den Reichtum erklären können.
Life Sciences at its best – natürlich aus der Stadt Basel.
Dieser Text ist als Hick-up in der Basler Zeitung vom 25. September 2018 erschienen.